Seit der Gründung von space22 beschäftige ich mich mit der Frage: Wo liegt die ideale Größe eines Unternehmens dieser Art. Gibt es diese ideale Größe überhaupt? Und kann man das auf eine Zahl reduzieren? Aber ich möchte einmal ganz vorn anfangen.

Der Grund des Wachstums

Natürlich ist das Unternehmenswachstum kein Selbstzweck. Grundsätzlich kann man aber sagen, dass im Kontext der auf “Time & Material” basierten Beratung eine Vergrößerung immer auch mit mehr Sicherheit einhergeht. Wenn wir groß genug sind, um drei Kunden parallel zu bedienen, verteilen wir unsere Umsätze auf drei verschiedene Kunden. Das heißt, mit dem personellen Wachstum kann die Diversifikation der Einnahmen einhergehen.

Weiterhin stehen durch ein personelles Wachstum weitere Schultern zur Verfügung, die einen ausfallenden Mitarbeitenden tragen können. Bei drei Consultants ist jeder personelle Ausfall der Wegbruch eines Drittels aller Einkünfte. Bei zehn nur noch ein Zehntel, was locker durch die Marge aller anderen abgefedert werden kann.

Ferner schafft Unternehmensgröße auch Flexibilität in der Ausrichtung. Wir denken darüber nach, bald ein eigenes Produkt zu entwickeln. Vielleicht haben wir auf dem Weg dorthin auch noch andere Ideen. Die Umsetzung solcher Ideen erfordert die Fähigkeit, ein oder mehrere unserer Mitarbeitenden aus dem wirtschaftlichen Tagesgeschäft der Beratung zu lösen, sodass diese ihre Zeit in die neue Idee investieren können. Je mehr Menschen währenddessen durch Ihre Arbeit Umsatz machen, desto einfacher ist die Investition in eine solche Idee.

Sowohl aus den Abwägungen zur Unternehmenssicherheit als auch im Interesse einer langfristigen Produktentwicklung ist für mich das personelle Wachstum ein erstrebenswertes Ziel und bis zu einem gewissen Punkt auch notwendig. Aber bis wohin?

Der Grenznutzen des Wachstums

Betrachtet man das Wachstum des Unternehmens ausschließlich aus der Perspektive der Insolvenz-Risikominimierung, dann erreicht man schnell den Punkt des Grenznutzens. Die Reduktion dieses Risikos verhält sich nicht linear. Entsteht durch neue personelle Kapazitäten der Sprung von einem auf einen zweiten Kunden, halbiert sich prinzipiell das Risiko einer Insolvenz. Ein weiteres Wachstum, das zum dritten Kunden führt, reduziert das Risiko weiter. Ab dem vierten oder fünften Kunde ist dieser Effekt auf die Wahrscheinlichkeit einer Insolvenz nur noch minimal.

Dasselbe gilt für die Innovation jenseits der Beratung. Ab einer gewissen Größe ist es für unser Unternehmen ohne Probleme möglich, zwei Personen in Vollzeit für diese Innovationsarbeit zu beschäftigen. Mit einem personellen Wachstum geht dann eine Vergrößerung der Beratung einher, die wiederum eine Vergrößerung des Produkt- oder Innovationsteams ermöglicht. Doch auch hier ist schnell der Punkt erreicht, in dem eine weitere Person im Unternehmen nur noch einen minimalen Effekt auf die Innovationsfähigkeit hat.

Damit kann zusammengefasst werden, dass aus Sicht der Wirtschaftlichkeit und der Flexibilität des Unternehmens, personeller Wachstum einen klaren Grenznutzen hat. Der Sprung von zwei auf drei Mitarbeitende schafft deutlich mehr Sicherheit und Flexibilität, als der Sprung von dreizehn auf vierzehn Mitarbeitende.

Der Preis des Wachstums

Personelles Wachstum wird oft als alternativloser Selbstzweck betrachtet. In einem kapitalistischen Wachstumsmarkt sollte ein Unternehmen personell wachsen, andernfalls wird es überholt.

Für mich ist ein Unternehmen, so wie ich es mir vorstelle, primär eine Vereinigung von Menschen, die sich gut verstehen, gerne Zeit miteinander verbringen und deshalb Spaß haben, miteinander zu arbeiten. Die Werte und die Visionen des Unternehmens sind die Gemeinsamkeiten und der Nordstern, nach denen sich die Gruppe gemeinsam orientiert. Daraus entsteht ein starkes Wir-Gefühl der Zugehörigkeit, aus dem der Zusammenhalt erwächst. In der Forschung spricht man hier von der Gruppenkohäsion. Dabei ist der generelle Tenor, dass eine Gruppe umso leistungsfähiger ist, je stärker ihre soziale Kohäsion ausgeprägt ist.

In den sozialen und neurologischen Wissenschaften finden sich seit vielen Jahren Versuche, die ideale und maximale Größe solcher kohäsiven Gruppen zu erfassen. Repräsentativ möchte ich dazu auf zwei Studien verweisen.

Robin Dunbar hat 1992 und 1993 zwei sehr bekannte Studien durchgeführt[1][2], die den populärwissenschaftlichen Begriff der Dunbar-Zahl prägten. Diese Studie kam zu dem Ergebnis, dass es eine mittlere Gruppengröße gibt, die man durch die Geschichte der Menschheit hindurch immer wieder finden kann, von der prähistorischen Stammesgröße über Siedlungsgrößen bis zu Zusammenstellung von Staffeln im Militär: 150.

Eine andere Studie kommt unter anderem von Peter Killworth[3]. In dieser wurden verschiedene Feldstudien zur durchschnittlichen Größe unterschiedlicher sozialer Gruppen durchgeführt und verglichen. Hier ermittelten die Forscher ebenfalls eine mittlere Gruppengröße, allerdings kamen sie zu einem anderen Ergebnis: 290.

Neben diesen beiden gibt es viele andere Studien, die zu verschiedenen zwei- bis dreistelligen Zahlen für die maximale Größe einer kohäsiven Gruppe kommen. Einig ist sich die Forschung hinsichtlich einer Zahl nicht. Konsens ist aber Folgendes: Menschen sind soziale Wesen, die intrinsisch dazu getrieben sind, kohäsive soziale Gruppen zu bilden (i. d. R. Vereine, Freundeskreise, Familie und Arbeit).

Daher bin ich der Überzeugung, dass ein Unternehmen, welches die Zufriedenheit der Menschen in den Mittelpunkt stellen möchte, zwingend eine hohe soziale Kohäsion benötigt. Und diese funktioniert nur bis zu einer bestimmten Gruppengröße, abhängig von vielen unterschiedlichen Faktoren.

Wird diese Größe überschritten, spaltet sich die kohäsive Gruppe in mehrere kleinere Gruppen im Unternehmen. Diese können dann wieder für sich eine starke soziale Kohäsion halten. Das umspannende Wir-Gefühl wird aber zwangsläufig zu einem gewissen Grad durch diese Spaltung verloren gehen. Gleichzeitig entsteht die unvermeidbare Dynamik der “Eigen- und Fremdgruppen”[4], welche zu einer weiteren Distanzierung zwischen den kleineren Gruppen im Unternehmen führt.

Das theoretische Limit

Für mich ist nach der Lektüre unterschiedlicher Studien, vielen Gesprächen mit klugen Menschen und meiner eigenen Lebenserfahrung klar: Es gibt eine Grenze, bis die ein System wie space22 wachsen kann, bevor es in kleinere Teile zerbröckelt und damit den Charme des intensiven Wir-Gefühls verliert.

Auch kann niemand so richtig beantworten, wo diese Grenze liegt. Von 40 bis 100, kann alles plausibel klingen. Dunbar gibt allerdings auch hier einige Hypothesen, die zum Denken anregen. In seiner Studie spricht er davon, dass Dispersion, Häufigkeit der Interaktion und Überlebensdruck von Außen einen starken Einfluss auf die maximale kohäsive Größe einer sozialen Gruppe nehmen, und veranschaulicht das durch viele konkrete Beispiele[2, S. 692]:

Im beispielhaften Falle einer historischen Dorfgemeinschaft, die jeden Tag miteinander verbringt und von gemeinsam getragenen Risiken geprägt ist, kann eine kohäsive Gruppe von mehr als 150 Personen erfolgreich bestehen.

Wir leben in einer ganz anderen Welt. Unser Kontext ist die gemeinsame Arbeit, geteilte Werte und das gemeinschaftliche Erschaffen eines Unternehmens. Als Belegschaft und Arbeitgeber existiert kein Überlebensdruck von Außen. Auch arbeiten wir als digitales Unternehmen ohne physikalisches Büro unter einer eher extremen Dispersion. Durch Projektarbeiten und verschiedene Arbeitsgruppen sind auch die Interaktionen zwischen den Menschen zwar täglich gegeben, aber oft nur in einzelnen Terminen. Das alles sind Faktoren, welche die Grenze nach der Studienlage nach unten verschieben, ohne konkret sagen zu können, bis wohin.

Die Wachstumsgrenze in der Praxis

Am 26.04.2024 habe ich auf der Agile Cologne genau zu diesem Thema eine Session gehalten, in der wir gemeinsam über die Frage der idealen Unternehmensgröße debattiert haben. Diese Debatte war unglaublich interessant und ich habe drei sehr konkrete Impulse daraus mitgenommen:

1. Soziale Kohärenz ist kein Selbstzweck

Mein initialer Frame in der Diskussion war, dass ein Unternehmen mit maximaler Kohärenz, in dem sich jeder als Teil der Gruppe fühlt, zwangsläufig das ideale Unternehmen ist. Das stimmt so nicht. Es gibt viele große Unternehmen, in denen es zwangsläufig zu einer Spaltung in vielfache Gruppen kommt. Und in diesen Unternehmen fühlen sich Menschen wohl. Denn soziale Kohärenz ist nur einer von vielen Wohlfühlfaktoren, und jeder Mensch gewichtet diese Faktoren unterschiedlich.

Ich kann für mich sagen, dass mir dieser Faktor einer der wichtigsten ist. Daher möchte ich Unternehmen bauen, in denen es eine starke Kohärenz in der Belegschaft gibt. Und deswegen ist für mich die ideale Unternehmensgröße eine, die wirtschaftliche Sicherheit bringt und gleichzeitig sicherstellt, dass sich die Belegschaft als eine feste und vertraute Gruppe wahrnimmt.

2. Eine Schätzung der Grenze ist eine gute Hypothese

Niemand kann die Grenze vorhersagen, in der ein Unternehmen wie unseres in eine Spaltung gerät. Es ist aber ziemlich wahrscheinlich, dass die Grenze bei einem Unternehmen, welches remote arbeitet, eher kleiner ist. Daher habe ich für mich die Zahl von etwa 30 mitgenommen, die man sicherlich erreichen kann, ohne, dass eine Zersplitterung stattfindet.

3. Agile Methoden können ein Lösungsansatz sein

Das ist für mich der spannendste Impuls, der sehr mit mir resoniert hat. Letztlich ist die Idee hinter der agilen Methodik ja im Kern, eine auf Feedback basierende iterative Herangehensweise, um der inhärenten Komplexität des Unbekannten zu begegnen. Und genau das haben wir beim Thema der Unternehmensgröße: Es gibt eine Grenze, die uns allerdings unbekannt ist.

Eine iterative Herangehensweise könnte sein, jeden personellen Zuwachs, vor dem Hintergrund der Auswirkungen auf die Kultur des Unternehmens, zu beleuchten und in der Belegschaft gemeinsam zu entscheiden. Konkret könnte das bedeuten, dass vor der Beschäftigung eines potenziellen neuen Mitarbeitenden eine kurze Diskussion mit anschließender Abstimmung durchzuführen. Hier können sich dann alle, die wollen, beteiligen.

Was ich daran charmant finde ist, dass die Bewertung und Entscheidung der idealen Größe in die Hände der Menschen gegeben wird, auf die sie sich am stärksten auswirkt. Gleichzeitig wird dadurch nicht eine abstrakte Zahl als Limit gesetzt, sondern ein System geschaffen, welches Achtsamkeit für das Risiko schafft und sich selbst regulieren kann.

Abschließende Gedanken

Für mich war dieser Artikel eine mehrmonatige Reise. Gestartet bin ich mit der Frage nach einer ganz konkreten Zahl: Welche exakte Größe muss space22 erreichen? Über die Recherche verschiedener Studien und Meinungen zu dem Thema veränderte sich die Frage in meinem Kopf: weg von einer ganz konkreten Zahl, hin zu einer Tendenz. Auch kam dadurch ein Begriff in meinen Sprachschatz, für den ich vorher nur ein Bauchgefühl hatte: die soziale Kohärenz. Durch viele Gespräche, zuletzt dann auch auf der Agile Cologne, veränderte sich meine Perspektive abermals: Soziale Kohärenz ist kein Selbstzweck, sondern mein persönlicher Wunsch – den viele teilen, aber nicht alle.

Und damit ist für mich das Ergebnis ziemlich klar: Es gibt keine ideale Unternehmensgröße. Aber es kann einen Prozess geben, der es der Belegschaft ermöglicht, kontinuierlich zu evaluieren, ob der Vorteil eines weiteren personellen Wachstums mit den eigenen Ansprüchen an die Unternehmenskultur vereinbar ist. Und das finde ich richtig stark.

Ich bin gespannt, wo wir bei space22 unsere eigene Wachstumsgrenze ziehen werden.

Stay Mindful
Jakob 🙏

Signatur von Jakob Holderbaum

Literaturverzeichnis

[1] Robin I. M. Dunbar (1992). Neocortex size as a constraint on group size in primates. Journal of Human Evolution (1992) 20, 22(6), 469–493. doi:10.1016/0047-2484(92)90081-j

[2] Dunbar, R. I. M. (1993). Coevolution of neocortical size, group size and language in humans. Behavioral and Brain Sciences, 16(4), 681–735. doi:10.1017/S0140525X00032325

[3] McCarty, Christopher; Killworth, Peter D.; Bernard, H. Russell; Johnsen, Eugene C.; Shelley, Gene A. (2001). Comparing Two Methods for Estimating Network Size. Human Organization, 60(1), 28–39. doi:10.17730/humo.60.1.efx5t9gjtgmga73y

[4] “Eigengruppe und Fremdgruppe”. 14. Januar 2024. Wikipedia. https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Eigengruppe_und_Fremdgruppe&oldid=241156801

Eine besondere Erwähnung verdient Alexandra Elbakyan für ihre Bemühungen, Millionen von Menschen, darunter auch mir, den Zugang zu Wissen zu ermöglichen.