Vor zwei Jahren fand ich eine Postkarte: „Wenn es regnet, sind alle Schaukeln frei.“ Ich lachte, und der Satz blieb. Heute prägt die dahinterliegende Idee, was ich denke, wie ich führe und wie ich handle.

Der Samen

Im Juni 2024 war ich auf meiner ersten Veranstaltung der Entrepreneurs Organization in Rhein-Ruhr: dem Sommerfest. Dort traf ich unglaublich viele inspirierende und beeindruckende Persönlichkeiten. Ein Gespräch ist mir bis heute hängen geblieben.

Ein Unternehmer erzählte mir von verschiedenen Schicksalsschlägen, seinen verlorenen Unternehmen, dem prekären Leben unter wirtschaftlicher Angst und dem neuen Unternehmen, das er zu dem Zeitpunkt aufbaute. Natürlich hatte ich zu dem Zeitpunkt noch keine Idee davon, welche Achterbahnfahrt mit der Space vor mir lag. Und doch fiel mir auf, wie unglaublich zufrieden dieser Mensch von all den Ereignissen sprach, die ich damals als Rückschläge kategorisierte und bewertete.

Darauf angesprochen erzählte er mir von der Lebensphilosophie des Stoizismus. Das klang interessant, gleichzeitig fehlte mir in dem Moment der Zugang, um dieses Thema so richtig einordnen zu können. Was mir aber hängen blieb: Ich hatte einen inspirierenden Menschen getroffen, der mit großer Ruhe und Zufriedenheit von schweren Schicksalsschlägen sprach. Und diese Zufriedenheit hatte er in der stoischen Philosophie gefunden.

Das pflanzte einen Samen in meinem Kopf. Seither dachte ich immer wieder an die Existenz dieser Philosophie, ohne jedoch weiter darauf einzugehen.

Der Sprössling

Im November 2024 kam das Thema dann zum richtigen Zeitpunkt erneut zu mir. Jemand erwähnte es in einem Nebensatz und ich entschied mich dazu, in das Thema einzusteigen. Für eine Autofahrt kaufte ich mir ein dreistündiges Hörbuch, das einen Überblick über die stoische Philosophie gibt.

Seither beschäftige ich mich täglich mit dem Stoizismus. Und das hat mein Leben stärker verändert, als ich es je für möglich hielt.

Der Baum

Der Stoizismus wurde vor fast 2500 Jahren im antiken Griechenland begründet. Im Kern ist dieser eine umfassende Lebensphilosophie. Das übergeordnete Ziel des Stoizismus ist die eigene Zufriedenheit. Ein pragmatisches, ausgesprochen sinnvolles Ziel.

Für die Erreichung dieses Zieles stellt der Stoizismus viele unterschiedliche Anekdoten, Paradigmen und Impulse bereit. Für mich lässt sich der Stoizismus so zusammenfassen: Es gibt Dinge, die ich beeinflussen kann – und Dinge, die ich nicht beeinflussen kann. Jede Energie für das Nichtbeeinflussbare ist verloren und fehlt dort, wo ich wirksam bin.

Und so startete meine Reise. Ich begann, täglich über genau diese Frage zu reflektieren. Dabei passierten zwei Veränderungen.

Die erste war, dass ich eine Art Reflex entwickelte. Heute begleitet dieser mich durch jeden Tag. Wenn ich auf etwas stark reagiere, kommt reflexartig eine Frage in meinem Kopf hoch: „Kann ich das beeinflussen?“ Mit dieser Frage kann ich in der Regel meinen Ärger oder meine Angst akzeptieren und sehen. Statt mich von diesen Gefühlen in eine Spirale leiten zu lassen.

Die zweite Veränderung war subtiler – und fundamentaler. Je länger und häufiger ich über die Frage meiner Einflusssphäre nachdachte, desto kleiner wurde selbige. Monat für Monat erkannte ich klarer, dass ich nahezu nichts um mich herum wirklich beeinflussen kann. Andere Menschen, Umwelteinflüsse, politische und wirtschaftliche Ereignisse.

Konsequent zu Ende gedacht kam ich damit bei einer weiteren Kernthese des Stoizismus an. Das Einzige, was ich wirklich vollständig kontrollieren kann, ist meine eigene innere Haltung. Letztlich bewerte ich durch meine Haltung alles, was ich wahrnehme. Und erst damit bekommen die Dinge Macht über mich.

Der Sitznachbar mit der lauten Musik im Regionalexpress? Er ärgert nicht mich, sondern ich entscheide mich dafür, Ärger zu empfinden.

Die Mitarbeiterin, die unerwartet kündigt? Mein Ego macht aus der wertfreien Transaktion eine Verletzung.

Der finanzielle Verlust durch einen Schaden am Mietwagen? Mein Glaubenssatz zu Geld macht daraus eine Katastrophe.

Ich könnte noch viele weitere Beispiele aufzählen. Unglaublich bewegt hat mich aber die Erkenntnis, dass der immer kleiner werdende Raum meiner eigenen Einflusssphäre letztlich zu einer massiven Vergrößerung meiner eigenen Möglichkeiten geführt hat.

Alles, was passiert, bewerte ich durch die Brille meiner inneren Haltung. Somit kann ich alles verändern, wenn ich nur meine Haltung verändere.

Im Schatten des Baumes

Der mentale Baum des Stoizismus spendet meiner Familie und mir heute jeden Tag wundervollen Schatten. Und er wächst täglich weiter. Im Januar 2025 ging die Abwärtsspirale der Space so richtig los, und zieht sich bis heute hin. Der Stoizismus hat mir geholfen, mit den unglaublichen Herausforderungen konstruktiv umzugehen, und diese für mich als Chance zu begreifen.

Ohne diese Grundhaltung wäre ich sicherlich zusammengebrochen und um die Insolvenz nicht herumgekommen.

Für meinen Führungsalltag bedeutete das konkret: Entscheidungen treffe ich mit Fokus auf Bereiche, die in meiner Einflusssphäre liegen. In Gesprächen mit Kunden, Partnern und Mitarbeitenden hilft mir die Haltung, Emotionen zu sehen, statt gegen sie zu kämpfen.

Auch meine Sprache hat sich fundamental verändert. Einige Worte verwende ich nahezu gar nicht mehr, stattdessen sind Alternativen in mein Leben gekommen.

Dürfen

Mir ist bewusst geworden, wie oft wir das Wort „müssen“ verwenden. “Ich muss noch die Buchhaltung machen”. Dieses Wort beinhaltet eine Haltung der Fremdbestimmtheit. Wenn ich etwas tun muss, dann werde ich dazu gezwungen.

Heute verwende ich fast ausschließlich „dürfen“ als Alternative: „Ich darf noch mit dem Hund rausgehen“, „Ich darf mein Unternehmen liquidieren“. Im Dürfen steckt, anders als im Müssen, all das Wundervolle, was hinter dem vermeintlichen Zwang steckt. Natürlich ist es eine Belastung, das Unternehmen zu liquidieren. Aber ich darf das tun, weil ich das Privileg der Selbstständigkeit und der vollkommenen Autonomie habe. Wie großartig, dass ich diese Phase in meinem Leben erreicht habe. Und wie aufregend, welche neuen Abschnitte des Lebens wohl hinter der Liquidation warten.

Dieser fundamentale Perspektivwechsel begleitet mich durch jeden Tag. Das Wort „dürfen“ erinnert mich in den wichtigen Momenten daran, in Chancen, nicht in Zwängen zu denken.

Lernen

Was ich noch konsequenter gestrichen habe, ist das schreckliche Wort „Scheitern“. Stattdessen spreche ich über das Lernen. Natürlich könnte ich den Verlust eines Unternehmens als Scheitern bezeichnen. Doch warum sollte ich das tun? In kaum einer Phase meines Lebens habe ich mehr gelernt als während des Abwickelns der Space. Diese Erfahrungen beeinflussen schon jetzt meine unternehmerischen Entscheidungen, machen mich kompetenter und resilienter. Wie wunderbar, dass ich diese Erfahrung zum Preis eines Unternehmens machen durfte.

Der tägliche Fokus auf das Gelernte führt mir kontinuierlich vor Augen, wie ich mich weiterentwickle. Das schenkt mir unglaubliche Zufriedenheit.

Schenken

Das Wort „Geschenk“ hat ebenfalls eine neue Relevanz in meiner Sprache gefunden. Ich merke, dass ich weniger über Herausforderungen und Probleme spreche. Beide Worte finden zwar nach wie vor ihre Verwendung, doch viel häufiger ertappe ich mich dabei, Geschenk zu sagen.

Denn letztlich ist das für mich im Kern die Haltung, mit der ich heute durchs Leben gehe. Das Leben, die Menschen um mich herum und meine Erfahrungen sind Geschenke, an denen ich wachsen und die ich fühlen kann. Wie wundervoll.

Abschluss

Falls Du Dich mit dem Thema des Stoizismus beschäftigen magst, gibt es ein wundervolles Buch: The Daily Stoic. 365 kurze Kapitel, eines für jeden Tag. Mir hilft das Buch dabei, täglich über meine Haltung und mein Leben zu reflektieren und mehr über den Stoizismus zu lernen.

Der Stoizismus hat noch unglaublich viele andere Aspekte und Ideen, die mich durch den Alltag begleiten. Sicherlich werden diese in späteren Essays ihren Platz finden. Dieses aber möchte ich der, aus meiner Sicht, Essenz des Stoizismus widmen.

Und wer hätte gedacht, dass eine alberne Postkarte eine so tiefe Bedeutung haben kann? Denn die Aussage zu den freien Schaukeln im Regen ist im Kern die stoizistische Weltanschauung: Es regnet, das kann ich nicht beeinflussen. Wie wundervoll, dass ich somit die Schaukel für mich habe.

Danke, dass Du dieses Essay gelesen hast.

Stay Mindful
Jakob 🙏

Signatur von Jakob Holderbaum